MOZ, Nummer 55
September
1990
Neues Deutschland:

„Zu den Siegern dieser Geschichte will ich nicht gehören“

Interview

Peter Zimmermann ist ein Leipziger Revolutionär der ersten Stunde. Im dreiköpfigen Organisationskomitee für die großen Herbstdemonstrationen handelte er einen ‚Waffenstillstand‘ zwischen Bürgern und Polizei aus.

Den ersten Monaten des Hochgefühls folgte bald die Enttäuschung darüber, daß er für ein Land gekämpft hat, das es bald nicht mehr geben wird, die DDR. Hannes Hofbauer führte mit ihm das folgende Gespräch.

Februar 1990 in Erfurt. Von Revolution spricht niemand mehr
Bild: Votava
MONATSZEITUNG: Ihr habt vor neun Monaten eine Revolution gemacht. Unblutig, wie sich das ein evangelischer Theologe nicht besser wünschen kann. Was ist jetzt besser geworden in der DDR?

Zimmermann: Für die individuellen Freiheiten hat sich eine ganze Menge verbessert, vor allem, was lesen, schreiben und diskutieren betrifft. Wir können jetzt ausreisen und Besuche bekommen. Wir haben jetzt eine öffentliche Kultur, wo man über alles Wichtige und auch Unwichtige streiten kann. Das gab es vorher — ängstlich — nur hinter verschlossenen Türen. Aber ich glaube, daß nur ein ganz kleiner Kreis von Menschen das als einen großartigen Sieg oder einen Gewinn betrachtet, angesichts des Riesenbergs von Unsicherheiten im sozialen Bereich und am Arbeitsplatz.

Wer sind diese wenigen Menschen, die die individuellen Freiheiten als Gewinn betrachten können?

Das sind vor allem Aktivisten, die seit Jahren mit einem Bein in Untersuchungshaft gestanden sind, deren Post beschlagnahmt worden ist und die dauernd — wie das so schön hieß — zugeführt und polizeilich bestraft wurden. Für diese Menschen hat die Freiheit des Geistes, also laut denken und deutlich schreien, ein ganz großes Gewicht. Die fühlen jetzt ein Stück Gewinn. Dazu muß man sagen, daß diese Aktivisten ja meist keine sicheren Arbeitsplätze kannten. Von daher ist für sie die totale soziale Verunsicherung, wie sie jetzt in der DDR einkehrt, keine neue Erfahrung. Zuhause ist dieser Kreis von Leuten im „Neuen Forum“, in den Bewegungen „Demokratie Jetzt“ oder in der „Initiative für Frieden und Menschenrechte“. Ganz wenige von ihnen sind dann in die neugegründeten Parteien gegangen.

Also, mit einem Wort, die Intellektuellen.

Genau. Viele davon waren zu Honeckers Zeiten allerdings Arbeiter, die ihren Intellektuellen-Job verloren haben und abgetaucht sind.

„Golf GTI statt freier Geist“

Wie kommt es, daß der Sieg, den die Revolutionäre erkämpft haben, jetzt De Maiziere und die bundesdeutsche CDU feiern. Die waren ja nicht auf der Straße.

De Maiziere hat am 18. März 1990 einen entscheidenden Wahlsieg gefeiert. Aber er war auch schon früher für Leute, die brisante politische Prozesse führen mußten, eine gute Adresse. Gysi und De Maizitre standen neben den Oppositionsgruppen, haben ihnen aber ein Stück Rechtsschutz geboten. Die Leute um De Maiziere oder Gysi waren immer ziemlich geschlossene Gruppen von Intellektuellen, die für die allseits sichtbare Krise im ökonomischen und ökologischen Bereich Reformprogramme erarbeitet haben. De Maiziere hat sehr wohl verstanden, daß die Mehrheit der DDR-Bürger weniger für den freien Geist als für Golf GTI, Video und Marlboro zu haben sind. Deshalb ist es ihm so leicht gelungen, zusammen mit der westdeutschen Bundesregierung die Türen aufzustoßen und mit Hilfe der Wahlkampfversprechungen von Helmut Kohl — die Wahlen zu gewinnen.

Das hätten aber viele, also auch Sie, von Anfang an wissen müssen.

Ja. Gerade die Leute der neuen politischen Bewegung, Jens Reich und Bärbel Bohley zum Beispiel, waren vom Wahlausgang gar nicht so überrascht wie die Berichterstatter im Westen. Die haben das schon drei Wochen vorher signalisiert.

Es scheint, daß Mitte November die Stimmung auf den Straßen der DDR umgekippt ist, von „Wir wollen ein besseres zweites Deutschland machen“ hin zu „Wir wollen BRD-Bürger sein“. Noch im Oktober stand die Vereinigungsforderung auf keinem einzigen Transparent. Im nachhinein betrachtet sieht das fast so aus, als ob es ein taktischer Schachzug der Opposition in der DDR gewesen wäre, die Vereinigungsfrage anfangs nicht zu thematisieren. In Wirklichkeit haben vielleicht schon alle gewußt, daß genau die deutsch-deutsche Einigung herauskommen wird.

Es hat keine bewußte Entscheidung gegeben, sich um dieses Thema zu drücken. Aber im Hinterkopf haben viele von uns schon seit 1986/87 gewußt, daß diese Frage auftaucht, wenn wir in der DDR Perestroika machen. Perestroika und Glasnost haben in Polen, Ungarn und der Sowjetunion die Nationalitätenfrage immer mit hochgebracht. Irgendwo haben wir in der DDR gewußt, daß das für uns ein Sprengsatz, eine Mine ist. In der DDR ist die Nationalitätenfrage die Deutsche Frage. Aber anstatt darüber intensiv von Anfang an nachzudenken, haben wir uns um diese Frage herumgedrückt.

In dem Moment allerdings, als die Korruptionsskandale, die ja in Wirklichkeit Skandale kleinen Ausmaßes waren, das politische System in der DDR haben unreformierbar erscheinen lassen, und als das Ausmaß der Kaputtheit von Ökonomie und Ökologie sichtbar wurde, hat es den neuen politischen Bewegungen die Sprache verschlagen. Die Mehrheit der Leute auf der Straße, also die Arbeiter und Angestellten, die haben gesagt, daß es in diesem Trümmerland DDR für sie überhaupt keine Chance mehr gibt. Die Devise lautete: Laßt uns die Bundesrepublik hierher holen.

„... die haben uns ausgelacht“

Für Sie ist das ein rein DDR-interner Prozeß?

Ja, vorerst schon. Die Leute hier haben schon vor Kohls Zehn-Punkte-Plan nicht mehr an die DDR geglaubt. Freilich hat die Bonner CDU/CSU-FDP-Koalition wie auch schon die SPD-FDP-Koalition zuvor Deutschlandpolitik in diesem Sinne gemacht. Da waren wir von der Opposition ziemlich blind. In dem Moment, als der Wunsch nach Wiedervereinigung von Kohl gehört wurde und er sein Zehn-Punkte-Programm vorgelegt hat, war die Sache eigentlich verloren. Es hat zwar Ende November noch den Versuch gegeben, ein Dokument des nationalen Konsenses für eine eigenständige Entwicklung der DDR zu schaffen — da waren Walter Janka, Christa Wolf und viele andere Leute vom „Neuen Forum“ dabei —, aber diese Initiative ist zum Teil einfach ausgelacht worden. Wir haben damals 1,25 Mio. Unterschriften für dieses Dokument erhalten, aber mehr waren es eben nicht, die von den 16 Millionen DDR-Bürgern für einen eigenen Weg waren.

Wenn man jetzt durch die DDR fährt, fällt einem auf, daß — anders als zu Weihnachten — niemand mehr über die Revolutionszeiten sprechen will. Welche Sorgen sind es, die sogar den Stolz der Leute verdrängen?

So eine brutale Erfahrung, wie wir in der DDR machen, das prägt. Bis in den März hinein haben die Leute die neue Freiheit gespürt und ausgekostet. Die alten Zwänge und Abhängigkeiten haben nicht mehr gegolten. Nach einem halben Jahr kindischer Freude kommen plötzlich völlig neue Erfahrungen, wo die Freiheit weggenommen wird. In der DDR gab es bis vor kurzem keinen, der sich um Arbeitslosigkeit sorgen mußte. Natürlich gab es eine versteckte Beschäftigungslosigkeit, die Leute haben nicht gearbeitet, aber sie hatten einen Arbeitsplatz mit Grundeinkommen. Niemand mußte sich auch darüber Gedanken machen, wieviel eine ärztliche Untersuchung kostet. Die Spitäler waren zwar nicht optimal, aber die ärztliche Versorgung war gratis. Es gab wenige, vorwiegend schlechte Wohnungen; aber jeder hatte seine Sicherheit, daß er irgendwann eine davon bekam, mit der er ganz zufrieden war.

„... aus der CDU ausgetreten“

Früher war das Problem, daß man nicht so gut arbeiten konnte, wie man wollte. Jetzt machen die gleichen Menschen die Erfahrung, daß sie überhaupt nicht mehr arbeiten können. Jetzt gibt es auch nicht mehr die Frage, wann bekomme ich eine Wohnung, sondern, bekomme ich überhaupt eine Wohnung, die ich bezahlen kann. Die Menschen, die früher zum Arzt gegangen sind, weil sie einmal eine Woche im Garten arbeiten wollten, die trauen sich heute nicht einmal mehr zum Arzt zu gehen, wenn sie ernsthaft erkrankt sind. Bei manchen macht sich die Einsicht breit, daß diese Probleme im Herbst verschlafen worden sind, in den Monaten, in denen wir uns überschwenglich über die Freiheit gefreut haben.

Was hat Sie persönlich in den letzten neun Monaten am meisten gefreut?

Für mich war der Oktoberanfang des letzten Jahres die schönste Zeit in meinem Leben. Vom 4. Oktober an haben wir gefürchtet, ja gewußt, daß am Montag, dem 9. Oktober, Blut fließen wird. Wir haben damals, am 9. Oktober nachmittags — in dieser sogenannten Sechsergruppe, bestehend aus drei SED-Stadtverwaltern und uns drei Oppositionellen — einen Appell an die Leipziger geschrieben, der über Radio verlesen wurde, aus dem hervorging, daß die Stasi sich zurückhalten würde, wenn die Demonstranten es nicht auf die Konfrontation anlegen. Das gab den Leuten auf der Straße eine gewisse Sicherheit. An diesem Montag abend, als ich um 8 Uhr beim Gewandhaus war, kam der ganze Demonstrationszug gerade an. Es wurde nicht geschossen, das war eine grandiose Sache. Unwahrscheinlich eindrucksvoll für mich war auch, wie viele Menschen sich engagiert haben. Das war die vielleicht allergrößte Freude.

Und Ihre größte Enttäuschung?

Die hängt damit zusammen, daß ich bis zum 12. März der CDU (Ost-CDU) angehört habe. Und ich habe immer gehofft, daß die CDU in der DDR eine Partei wird, die sich reformiert. Aber nach dem Dezember-Parteitag kam heraus, daß die Ost-CDU, die bisher immer genau das gemacht hat, was die SED ihr vorschrieb, nun einfach einer anderen Partei folgte, nämlich der Bonner CDU um Kohl. Da hab’ ich noch zwei Monate versucht, in der CDU einen linken Flügel aufzubauen, eine sogenannte ökomenische Plattform, aber als ich ahnte, wie die Wahl ausgehen würde, bin ich am 12. März aus der Partei ausgetreten. Ich wollte nicht zu den Siegern dieser Geschichte gehören.

Danke für das Gespräch.
Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)