Streifzüge, Heft 2/1998
Juni
1998

Zum Wesen der Arbeit — Skizzen zu einem Arbeitsbegriff

Es wird uns nicht erspart bleiben, die Bedeutung der menschlichen Arbeit dadurch anzuerkennen, daß wir sie zum zentralen Begriff unseres politischen Programms machen.

Wir dürfen uns die Lebensfreude nicht erst nach dem schwitzenden Erzeugen von Waren durch deren Kauf und Verkauf erwarten, sondern müssen die schöpferische Kraft unseres Lebens als Quelle für die Hervorbringung unserer Güter nutzen.

Arbeit ist die Summe aller Tätigkeiten, die wir zur Herstellung unserer Lebensmittel und Bedarfsgegenstände, allerdings auch der Zerstörungsmittel, und zur Befriedigung unserer Bedürfnisse erbringen. Sie ist unsere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Natur. Zwar hat sie deren Nutzbarmachung für unsere Bedürfnisse zum Ziel, doch sehr oft auch ihre Beeinträchtigung zur Folge. Ihre Träger sind wir gesellschaftlich lebenden Menschen, ihr auslösendes Moment unsere menschlichen Bedürfnisse. Ihr Gegenstand ist die Natur. Ihre Mittel sind menschlicher Körperlichkeit nachgemachte Naturbestandteile. Ihr Ergebnis ist ein Gebrauchswert mit der Eigenschaft, gegen andere Gebrauchswerte ausgetauscht werden zu können.

Auseinandersetzung mit der äußeren Natur ist zugleich auch Einwirkung auf die innere Natur von uns Menschen. Unsere Triebe, Gefühle, Fähigkeiten, Bewußtsein, Fertigkeiten und Verhaltensweisen werden geweckt, angeregt, entwickelt und verfeinert. Unsere in uns vorhandenen Möglichkeiten versuchen wir, durch Arbeit in Wirklichkeit umzusetzen. Indem wir uns in unserer und durch unsere Arbeit entfalten und zur Entwicklung bringen, ist Arbeit stets ein Akt unserer Selbstschaffung, der zur Selbstzerstörung ausarten kann.

In der menschlichenArbeit als von Einsicht und Vorstellungsvermögen getragener Vermittlung zwischen Natur und Gesellschaft treffen wir zwei in ihr vereinigte, aufeinander wechselseitig einwirkende Elemente an:

  • ein seelisch-gesellschaftliches (kommunikatives) , aufgrund dessen wir die Ziele festlegen, die wir anstreben wollen (was jedoch Kenntnis von Verursachungszusammenhängen voraussetzt) und
  • ein körperlich-technisches (instrumentelles), aufgrund dessen wir die Handlungen vornehmen und Mittel anwenden, um diese Ziele zu erreichen.

Arbeit erweist sich also als schöpferische oder auch zerstörerische Umgestaltung des Natürlichen; als Quelle sowohl allen gesellschaftlichen Reichtums (wie immer er auch verteilt sein und individuell zu Buche schlagen mag) wie auch aller abträglichen Gebrauchswerte; als zentrale Lebenssphäre, weil Lebensäußerung schlechthin (unbeschadet ihrer besonderen historischen Erscheinungsform als Lohnarbeit).

Durch Arbeit verausgaben wir Menschen die Tätigkeiten unserer Sinnesorgane, unserer Nerven, unseres Hirns und unserer Muskeln und übertragen uns schichtweise auf den Gegenstand unserer Arbeit. Auch die Mittel, mit denen wir unsere Arbeit vollbringen (Werkzeuge, Geräte, Maschinen samt dazugehöriger Baulichkeiten und technischer Verbindungen) sind auf diese Weise zustandegekommen und weiterentwickelt worden.

Die Arbeitsmittel sind menschlichen Sinnesorganen und Gliedmaßen in zweckdienlicher Form nachgemachte Naturgegenstände. Sie vereinigen auf ergiebigerer Grundlage menschliche Fertigkeiten und Eigenschaften. Sie sind nicht nur aus gesellschaftlicher Arbeit hervorgegangen, sondern bedürfen auch stets der weiteren Verbindung mit ihr, um zweckgerichtet eingesetzt werden zu können. Arbeit als Akt unserer Selbstschaffung ist eine gesellschaftliche Tätigkeit.

So bringen wir durch sie nicht nur unsere stofflichen Lebensgrundlagen hervor, sondern auch die Rahmenbedingungen für unsere einzelnen Daseinsweisen, die gesellschaftlichen Zustände und aus ihnen entspringenden politischen Zusammenhänge, in denen wir leben und wirken.

Ein solcher Arbeitsbegriff weist nicht nur über die kapitalistisch verfremdete Form von Arbeit, über die Lohnarbeit, hinaus, sondern auch über jede Form von Erwerbsarbeit. Er begnügt sich auch nicht damit, der Lohnarbeit die Eigenarbeit als Selbstfmdungsmöglichkeit außerhalb des Erwerbslebens entgegenzustellen. Er ersetzt die Vorteilsberechnung des einzelnen zu Lasten der jeweils anderen durch die Nutzenerwartung der Gesellschaft.

Ein solcher Arbeitsbegriff weiß um die letztliche Unversöhntheit der Menschen mit der Natur, weshalb dieser Widerspruch durch Arbeit als Auseinandersetzung mit der Natur weiterentwickelt werden muß. Der damit verbundene Eingriff ist ein Eingriff der Natur in sich selbst, eine Wechselwirkung zwischen „Täter“ und „Opfer“, und macht daher jede Naturbeherrschungsabsicht der Menschen zunichte. Auch die Beherrschung eines Teils der Menschheit durch den anderen.

Wenn in kapitalistischen Betrieben den Beschäftigten „Freiheiten“ zugestanden werden, um durch Leistungsanreize den Betrieb zugunsten seiner kapitalistischen Eigentümer wieder flott zu machen, um wie viel besser müßten dann erst Betriebe für die Gesellschaft sein, deren demokratische Arbeitswelt den Menschen die Freiheit eröffnet, Notwendiges schöpferisch zu vollbringen?

Der Hebel zur Nutzung dieser Möglichkeiten liegt in der menschlichen Arbeit. Sie ist die Grundlage, auf der wir den bloßen Verteilungssozialismus zu einem Schöpfungssozialismus erweitern könnten. Diesen Hebel müssen wir ergreifen, wollen wir auch das nächste Jahrhundert zu unserem machen und damit das dritte Jahrtausend einleiten.

Aus dem Artikel „Die Arbeit ist der Hebel“ in der Zeitschrift Zukunft vom November 1989, Seiten 29f.